Gastkommentar von Margit Brugger aus der Zeitschrift "Der Brixner" n. 257 vom Juni 2011:

 

Als ich vor etwas mehr als sechs Jahren nach Brasilien aufbrach um dort ein zwei-jähriges Masterstudium zu absolvieren konnte ich mir in meinen kühnsten Träumen nicht ausmalen was mich dort erwarten würde. Noch konnte ich mir vorstellen wer ich nach sechs Jahren in Brasilien sein würde.

Das üppige und großzügige Land, sowie seine offenen Bewohner haben mich und meine Denkweise sehr tief beeinflusst. Vor allem seit ich mit den Ureinwohnern in Kontakt gekommen bin und ihre Gebräuche und ihr Weltbild erleben durfte, hat sich in mir etwas Grundsätzliches gewandelt.

Wir wachsen in unserer industrialisierten Welt mit der sicheren Meinung auf, dass wir als Menschen derzeit auf einem der höchsten Stadien unserer Entwicklung sind. Fortschritt und Technik erleichtern unser Leben, der Mensch hat sich im wahrsten Sinne des Wortes die Erde Untertan gemacht und ist frei das zu tun was ihm beliebt. Wichtig ist wer Erfolg hat, wer so viel wie möglich von dem realisiert was ihm und der Gesellschaft vorschwebt: Beruf, Haus, Auto, Familie. Das jedenfalls waren vor sechs Jahren meine Überzeugungen, die tief in mir verwurzelt waren.

Als ich zum ersten Mal in ein Indianerreservat fuhr, hatte man mich schon vorgewarnt. Es würde schmutzig sein, die Kinder verwahrlost und barfuss herumrennen, Tiere – Vögel, Katzen, Hunde und sogar einige Wildtiere aus dem Wald würden überall zugegen sein, von der Küche bis zum Gebetshaus. Später, als ich dann anfing in einer NGO mit ihnen zu arbeiten wies man mich von vornherein darauf hin wie faul die Indios wären, wie schwierig mit ihnen zu arbeiten, auch weil sie dauernd ihre Meinung änderten, fast um absichtlich die Projekte unmöglich zu machen.

Und tatsächlich, die Voraussagen über das Reservat bestätigten sich und auch später, die Schwierigkeit mit ihnen zu arbeiten. Und wie einfach wäre es gewesen das alles als Wahrheiten hinzunehmen, das ist eben so.

Bald nach meinem ersten Besuch im Reservat der Mbyá Guarani von Yynn Moroti Wherá (auf Guarani: Kristallklares Wasser) durfte ich jedoch an einer Zeremonie teilnehmen, von dem 100-jährigen Schamanen geleitet. Ich bin bis heute unendlich dankbar für das was ich sehen durfte. Die gleichen Menschen, Männer, Frauen, Kinder, die ich eben noch für faul und schmutzig usw. hielt, waren Vertreter eines stolzen Volkes. Zusammen bildeten sie durch ihr Gebet und ihre uralten Gesänge rund um das Feuer ein Energiefeld der Liebe, mit dem sie dem Schöpfer und dem Universum ihre Anliegen, sowie ihre Dankbarkeit entgegenbrachten. Von ganzem Herzen zeigten sie dass es auf der Erde Menschen gibt die sich erinnern ihre Mutter, die Erde, zu ehren, sowie ihren Großvater, die Sonne und das Feuer, den Wind, das Wasser, die Sterne und die ganze Schöpfung.

Seit dieser Nacht habe ich beschlossen die Augen zu öffnen, sozusagen die Augen des Herzens, den einzigen mit denen man nach Saint-Exupery gut sehen kann, das Wesentliche ist ja für unsere Augen unsichtbar.

Und tatsächlich war es mir bald möglich hinter die Fassaden zu schauen: die Kinder laufen barfuss herum, weil für die Indios auch der körperliche Kontakt zur Mutter Erde wichtig ist. Selten habe ich Kinder gesehen die so wenig weinen. Die Tiere sind Teil der Familie für die Guarani, sie gehen davon aus dass alle Lebewesen verwandt sind, und sehen keine Trennung zwischen Tier und Mensch. Die so genannte Faulheit der Indios ist meistens nichts anderes als das Vertrauen auf den natürlichen Rhythmus, des Lebens jeden einzelnen und aller Sachen. Auch dass sie dauernd ihre Meinung ändern liegt hauptsächlich am mangelnden Zuhören ihrer Gesprächspartner, die eine Menge Zeit sparen könnten, würden sie den ehrlichen Austausch suchen.

Ich will die Indios auf keinen Fall verklären, sie haben ihre ganz eigenen Problematiken und sind einfach Menschen wie wir alle. Aber für mich sind durch diesen Kontakt einige Dinge ganz klar geworden. Erst einmal, wie einfach (bzw. schwer) wir es uns oft in den verschiedenen Beziehungen machen. Meistens haben wir eine ziemlich genaue Vorstellung von unserem Gegenüber und leben die Beziehung oft mit dieser Vorstellung, statt mit dem Menschen dahinter. Was natürlich einen wirklichen, schönen und kostbaren Austausch unmöglich macht.

Und dann, wie sehr wir teilweise unter unseren ungeprüften Annahmen und Überzeugungen über das Leben leiden. Womit ich mich z.B. sehr intensiv befasst habe ist die Vorstellung dass wir „entwickelt“ sind, und die indigenen Völker „unterentwickelt“. Der Mensch kann sicher beschließen an nichts mehr zu glauben und alles dem Aberglauben zuzuschieben was durch die Wissenschaft nicht zu erklären ist. Wie schmerzlich dabei aber der Sinn für die Verbindung mit dem Ganzen verloren geht, ist uns nicht bewusst. Und wie sehr diese Entfernung von uns selbst schmerzt versuchen wir mit allen möglichen Ablenkungen zu kaschieren. Unsere „entwickelte“ Welt steht am sozialen, individuellen und umwelttechnischen Abgrund. Vielleicht ist es wirklich an der Zeit dass die Indigenen ihren „kleinen weißen Bruder“ an die Hand nehmen und ihm zeigen was auf dieser Erde wirklich wichtig ist, wie es einmal ein Kogi aus der kolumbianischen Sierra Nevada ausgedrückt hat. Dabei ist es eigentlich ziemlich simpel und jeder kann es ausprobieren. Z.B. sich die vier Elemente zu Hilfe zu holen; ein warmes Feuer, kaltes Wasser, den Wind im Gesicht und die Erde unter den Füssen bewusst wahrnehmen, sind Streicheleinheiten für die Seele. „Den Kopf ausruhen und das Herz öffnen“, tut uns wohl allen gut.

Die Vorstellung dass es möglich ist dieses uralte Wissen in jedem von uns wieder zum Leben zu erwecken und es gleichzeitig auf ein gute Art und Weise mit unserem technologischen Verständnis und unserem „westlichen Wissen“ zu verbinden, lässt mich mit viel Freude in eine ganz neue Zukunft schauen.