November 2011 - Gemeinwohl-Ökonomie


Laut einer Umfrage der Bertelsmann-Stiftung wünschen 88 Prozent der Deutschen und 90 Prozent der ÖsterreicherInnen eine „neue Wirtschaftsordnung“.

Die „Gemeinwohl-Ökonomie“ deckt die grundlegenden Elemente einer alternativen Wirtschaftsordnung ab und ist gleichzeitig offen für die Kombination und Synergie mit anderen Alternativen. Ziel ist die Schaffung eines verbindlichen Rechtsrahmens für gemeinwohl-orientiertes Werteschaffen.

Der Autor und politische Aktivist Christian Felber hat in seinem Buch „Neue Werte für die Wirtschaft. Eine Alternative zu Kommunismus und Kapitalismus“ 2008 die Grundlagen ausgearbeitet. Daraufhin bildete sich ein Kreis von UnternehmerInnen, die das Modell gemeinsam mit Felber weiterentwickelt und mit einem Namen versehen haben: „Gemeinwohl-Ökonomie“.

Die „Gemeinwohl-Ökonomie“ ist tendenziell eine Form der Marktwirtschaft, in der jedoch die Motiv- und Zielkoordinaten des (privaten) unternehmerischen Strebens „umgepolt“ werden – von Gewinnstreben und Konkurrenz auf Gemeinwohlstreben und Kooperation.

Zeitgenössische Forschungsergebnisse zeigen, dass diese Alternative entgegen tief sitzender Vorurteile gut mit der „Menschennatur“ vereinbar ist. Mehr noch: Die Gemeinwohl-Ökonomie baut auf genau den Werten auf, die unsere zwischenmenschlichen Beziehungen gelingen lassen: Vertrauensbildung, Verantwortung, Mitgefühl, gegenseitige Hilfe und Kooperation.

Diese humanen und nachhaltigen Verhaltensweisen werden anhand der Gemeinwohl-Bilanzgemessen und mit einer Fülle von Anreizen und „systemischen Aufschaukelungen“ belohnt: das Marktstreben wird „ethisch umgepolt“.

Heute gilt Finanzgewinn als allentscheidendes Kriterium für unternehmerischen Erfolg. In der Gemeinwohl-Ökonomie muss nicht „letztendlich das Geld“ stimmen, sondern die Gemeinwohl-Bilanz. Dann geht es den Menschen und allen Wesen gut.

Die inhaltliche Grundlage für den Gesamtprozess Gemeinwohl-Ökonomie ist das gleichnamige Buch. Hier ist es in 17 Punkten zusammengefasst:

  1. Wertebasis der Gemeinwohl-Ökonomie
  2. Umpolung des Anreizrahmens
  3. Gemeinwohl-Bilanz
  4. Belohnung von Gemeinwohlstreben
  5. Verwendung bilanzieller Überschüsse
  6. Erlösung vom Wachstums- und Fresszwang
  7. Begrenzung von Einkommens- und Vermögensungleichheiten
  8. Demokratisierung und Vergesellschaftung von Großunternehmen
  9. Demokratische Allmenden
  10. Demokratische Bank
  11. Reduzierung der Erwerbsarbeitszeit
  12. Berufsfreijahr
  13. Demokratie weiterentwickeln
  14. Wirtschaftskonvent
  15. Demokratische Konvente
  16. Fünf neue Pflichtgegenstände
  17. Soziale Führungsqualitäten


1. Die Gemeinwohlökonomie beruht auf denselben mehrheitsfähigen Werten, die unsere Beziehungen gelingen lassen: Vertrauensbildung, Kooperation, Wertschätzung, Demokratie, Solidarität. (Nach aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen sind gelingende Beziehungen das, was Menschen am glücklichsten macht und am stärksten motiviert.)

2. Der rechtliche Anreizrahmen für die Wirtschaft wird umgepolt von Gewinnstreben und Konkurrenz auf Kooperation und Gemeinwohlstreben. Unternehmen werden für gegenseitige Hilfe und Kooperation belohnt. Kon(tra)kurrenzverhalten bringt Nachteile.

3. Wirtschaftlicher Erfolg wird nicht vorrangig in Geldgrößen gemessen, sondern mit der Gemeinwohl-Bilanz (Unternehmensebene) und dem Gemeinwohl-Produkt (Systemebene). Die Gemeinwohl-Bilanz wird zur Hauptbilanz aller Unternehmen. Je sozialer, ökologischer, demokratischer und solidarischer Unternehmen agieren und sich organisieren, desto bessere Bilanzergebnisse erreichen sie. Je besser die Gemeinwohl-Bilanz-Ergebnisse der Unternehmen in einer Volkswirtschaft sind, desto größer ist das Gemeinwohl-Produkt.

4. Die Unternehmen mit guten Gemeinwohl-Bilanzen erhalten rechtliche Vorteile: niedrigere Steuern, geringere Zölle, günstigere Kredite, Vorrang beim öffentlichen Einkauf und bei Forschungsprogrammen etc. Der Markteintritt wird dadurch für ethische Akteure erleichtert und ihre Produkte und Dienstleistungen billiger als unethische, unfaire und unökologische.

5. Die Finanzbilanz wird zur Nebenbilanz. Kapital wird vom Zweck zum Mittel. Es dient nur noch dazu, den neuen Unternehmenszweck (Beitrag zum allgemeinen Wohl) zu erreichen. Bilanzielle Überschüsse dürfen verwendet werden für: Investitionen (mit sozialem und ökologischem Mehrwert), Rückzahlung von Krediten, Rückstellungen in einem begrenzten Ausmaß; begrenzte Ausschüttung an die MitarbeiterInnen sowie für zinsfreie Kredite an Mitunternehmen; nicht verwendet werden dürfen Überschüsse für: Ausschüttung an Personen, die nicht im Unternehmen mitarbeiten; feindliche Aufkäufe anderer Unternehmen; Investitionen auf den Finanzmärkten (diese gibt es nicht mehr) sowie Parteispenden.

6. Da Gewinn nur noch Mittel, aber kein Ziel mehr ist, können Unternehmen ihre optimale Größe anstreben. Sie müssen nicht mehr Angst haben, gefressen zu werden und nicht mehr wachsen, um größer, stärker oder profitabler zu sein als andere. Alle Unternehmen sind vom allgemeinen Wachstums- und vom Fresszwang erlöst.

7. Die Einkommens- und Vermögensungleichheiten werden begrenzt: die Maximal- Einkommen auf z. B. das 20-fache des gesetzlichen Mindestlohns; Privatvermögen auf z. B. 10 Millionen Euro; das Schenkungs- und Erbrecht auf z. B. 500.000 Euro pro Person; bei Familienunternehmen auf z. B. zehn Millionen Euro pro Kind. Das darüber hinaus gehende Erbvermögen wird als „Demokratische Mitgift“ an alle Nachkommen der Folgegeneration verteilt: gleiches „Startkapital“ bedeutet höhere Chancengleichheit. (Die genauen Grenzen sollen von einem Wirtschaftskonvent demokratisch ermittelt werden.)

8. Bei Großunternehmen gehen ab einer bestimmten Größe (z. B. 250 Beschäftigte) Stimmrechte und Eigentum teil- und schrittweise an die Beschäftigten und die Allgemeinheit über. Die Öffentlichkeit könnte durch direkt gewählte „regionale Wirtschaftsparlamente“ vertreten werden. Die Regierung soll keinen Zugriff/kein Stimmrecht in öffentlichen Unternehmen haben.

9. Das gilt auch für die „Demokratischen Allmenden“, die dritte Eigentumskategorie neben einer Mehrheit (kleiner) Privatunternehmen und gemischt-besessenen Großunternehmen. „Demokratische Allmenden“ sind Gemeinwirtschaftsbetriebe im Bildungs-, Gesundheits-, Sozial-, Mobilitäts-, Energie- und Kommunikationsbereich: die „Daseinsvorsorge“.

10. Eine wichtige Demokratische Allmende ist die „Demokratische Bank“. Sie dient wie alle Unternehmen dem Gemeinwohl und wird wie alle Demokratischen Allmenden vom demokratischen Souverän kontrolliert und nicht von der Regierung. Ihre Kernleistungen sind garantierte Sparvermögen, kostenlose Girokonten, kostengünstige Kredite und ökosoziale Risikokredite. Die Finanzmärkte in der heutigen Form wird es nicht mehr geben.

11. Die Erwerbsarbeitszeit wird schrittweise auf das mehrheitlich gewünschte Maß von 25 – 30 Wochenstunden reduziert. Dadurch wird Zeit frei für drei andere zentrale Arbeitsbereiche: Beziehungs- und Betreuungsarbeit (Kinder, Kranke, SeniorInnen), Eigenarbeit (Persönlichkeitsentwicklung, Kunst, Garten, Muße) und politische und Gemeinwesenarbeit.

12. Jedes zehnte Berufsjahr ist ein „Freijahr“ und wird durch ein bedingungsloses Grundeinkommen finanziert. Menschen können hier tun, was sie wollen. Diese Maßnahme entlastet den Arbeitsmarkt um zehn Prozent – die aktuelle Arbeitslosigkeit in der EU.

 

13. Die repräsentative Demokratie wird ergänzt durch direkte Demokratie und partizipative Demokratie. Der Souverän soll seine Vertretung korrigieren, selbst Gesetze beschließen, die Verfassung ändern und Versorgungsbereiche – Bahn, Post, Banken – kontrollieren können. In einer echten Demokratie sind die Interessen der Vertretung und des Souveräns ident –Voraussetzung dafür sind umfassende Mitgestaltungs- und Kontrollrechte des Souveräns.

14. Alle Eckpunkte sollen in einem breiten Basisprozess durch intensive Diskussion ausreifen, bevor sie von einem direkt gewählten Wirtschaftskonvent in Gesetze gegossen werden. Über das Ergebnis stimmt der demokratische Souverän ab. Was angenommen wird, geht in die Verfassung ein und kann nur wieder vom Souverän selbst geändert werden.

15. Neben dem Wirtschafts- oder Gemeinwohlkonvent könnten zur Vertiefung der Demokratie weitere Konvente einberufen werden: Bildungs-, Medien-, Daseinsvorsorgekonvent, …

16. Um die Werte der Gemeinwohl-Ökonomie von Kind an vertraut zu machen und zu praktizieren, werden folgende Unterrichtsinhalte eingeführt: Gefühlskunde, Wertekunde, Kommunikationskunde, Genderkunde, Demokratiekunde, Naturerfahrens-/Wildniskunde.

17. Da in der Gemeinwohl-Ökonomie unternehmerischer Erfolg eine ganz andere Bedeutung haben wird als heute und deshalb ganz andere Führungsqualitäten gefragt sein werden, werden die sozial verantwortlichsten und kompetentesten, die zum Mitgefühl und zur Empathie fähigen, die über sich hinaus sozial und ökologisch denkenden und fühlenden Menschen tendenziell nachgefragt werden und als Vorbilder gelten.

Die Gemeinwohl-Ökonomie ist weder das beste aller Wirtschaftsmodelle noch das Ende der Geschichte, nur ein nächster Schritt nach den Extremen Kapitalismus und Kommunismus. Sie ist ein partizipativer Prozess, entwicklungsoffen und sucht Synergie mit ähnlichen Ansätzen wie: Solidarische Ökonomie, Economie sociale, Gemeinschaftsgüter-Bewegung, Postwachstumsökonomie, Vier-in-Einem-Perspektive oder Economic Democracy.

Quelle http://www.gemeinwohl-oekonomie.org/